Interview mit Heidrun Abromeit:
Die ‘Links’ zwischen den Wählern und den Entscheidern funktionieren heute nicht mehr
Dr. Heidrun Abromeit war bis Ende März 2007 Professorin für den Vergleich politischer Systeme am Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Darmstadt. In den 90er Jahren hat sie sich fast als einzige in Deutschland – mit dem Thema Volksabstimmungen auf europäischer Ebene beschäftigt.
Ihre Buchveröffentlichung “Wozu braucht man Demokratie die postnationale Herausforderung der Demokratietheorie“, 2002 erschienen, ist eine umfassende, systematische und klare Darstellung des Stands der Demokratietheorie. Heidrun Abromeit gehört dem Kuratorium von Mehr Demokratie e. V. an. Heute widmet sie sich ihrer zweiten Leidenschaft, der Malerei.
NM: Frau Abromeit, wenn Sie die Demokratie in Europa betrachten auf nationalstaatlicher und europäischer Ebene welche Herausforderungen stellen sich heute?
Abromeit: Demokratie auf europäischer Ebene ist bisher nicht verwirklicht, und in den Mitgliedsländern der EU ist sie höchst unterschiedlich ausgeprägt. Das französische Parlament beispielsweise ist noch schwächer als das europäische. Das ist einer der Gründe, weswegen die Franzosen gern zur ‘Action directe’ schreiten, also zu Streiks und Protesten auf der Straße. Es gibt auch sehr zu denken, dass in Italien ein korrupter Mensch wie Berlusconi zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Immerhin gibt es in Italien das fakultative Referendum, es ist also möglich, dass die Bürger per Volksabstimmung ein ‘Veto’ gegen ein Gesetz einlegen. Das ist allerdings mit einem sehr hohen Quorum versehen, das heißt, damit es erfolgreich ist, müssen sich sehr viele Bürger beteiligen, und deswegen scheitern die Referenden häufig. Eigentlich ist die ‘Herausforderung’ fast überall dieselbe – nämlich: Möglichkeiten effektiverer Bürgerbeteiligung zu schaffen.
NM: Es scheint, dass Demokratie im Nationalstaat nicht mehr und auf europäischer Ebene noch nicht funktioniert. Welche Defizite sehen Sie auf europäischer Ebene?
Abromeit: Die politische Agenda, die von nationalstaatlichen Parlamenten behandelt werden kann, wird immer dünner. Die ‘Links’ zwischen den Wählern und den Entscheidern funktionieren darum heute nicht mehr. Denn die nationalstaatlichen Parteien politisieren Themen wie Wirtschaft, Energie oder den Milchpreis, die kaum noch in ihre Entscheidungskompetenz fallen. Und auf europäischer Ebene politisieren die Parteien für mehr oder weniger Europa – eine Frage, über die die Mitgliedsstaaten entscheiden. Das System der Politisierung ist also falsch. In der Politikwissenschaft spricht man deshalb schon von einem Trend zur ’policy without politics’: Politiker auf beiden Ebenen (der europäischen wie der nationalstaatlichen) fällen Entscheidungen, für die sie von den Wählern kein Mandat erhalten haben. Der europäische Wähler hat außerdem keinen Einfluss auf die Auswahl der leitenden Figuren in der EU, und es gibt keine nennenswerte Opposition. Die Mehrheit im Europäischen Parlament bildet sozusagen eine dauerhafte große Koalition, eingeschworen auf mehr Europa, sprich: immer mehr und intensivere europäische Reglementierung unter dem Namen Harmonisierung. Und genau dafür haben die Europa-Politiker in Brüssel aber kein Mandat.
NM: Sie halten Volksabstimmungen, genauer: fakultative Referenden, für geeignet, dem Mangel an Demokratie auf europäischer Ebene abzuhelfen. Warum?
Abromeit: Wenn der Wähler sich (nach dem eben gesagten) heute zur Geltung bringen will, kann das nur über Referenden passieren. Aber in ‘großen’ Fragen – wie zum Beispiel der einer europäischen Verfassung – geraten Volksabstimmungen häufig zu Abstimmungen über die jeweils Regierenden. Ich rate deshalb, kleiner anzufangen, nämlich bei sachbezogenen Widerspruchsrechten, wie zum Beispiel einem Veto gegen eine bestimmte Verordnung, denn da ist die Gefahr der Fehlentscheidung (nämlich der emotionalen Entscheidung über die eigene Regierung – statt der sachlichen Entscheidung über eine europäische Direktive) am geringsten. Wer sich beispielsweise über die Sparlampen aufregt, beschafft sich Informationen, blickt durch, und gibt seine Stimme ab. Wo solche Interessiertheit fehlt, haben Abstimmungen dagegen nur mit dem Vertrauen in die Politik (und die Politiker) zu tun. Wichtig ist natürlich, dass die entsprechenden Initiativen aus der Bevölkerung selbst kommen.
NM: Da die Politik und auch Teile der Politikwissenschaft offensichtlich nicht gewillt sind, das Thema Demokratie auf europäischer Ebene anzupacken, kann doch die Initiative dazu eigentlich nur von den europäischen Bürgerinnen und Bürgern kommen.
Abromeit: Die Theoretiker der deliberativen Demokratie, also eine bestimmte Richtung der Demokratietheorie, sind in Brüssel beliebt, da sie sogar in den elitären Diskussions- und Entscheidungszirkeln der Komitologie hinter verschlossenen Türen – das Walten der Vernunft sehen wollen (weil da ja ‘diskutiert’ wird). Demokratietheoretisch zu rechtfertigen wäre das vielleicht mit einer idealtypischen Gesamtöffentlichkeit, von der kann aber in der EU keine Rede sein. Etliche Europaforscher sind auch der Auffassung, dass bei einem überzeugenden Politikergebnis eine sogenannte ‘Input-Legitimierung’ durch die Bürger kaum oder gar nicht mehr nötig sei. Das halte ich für einen folgenschweren Irrtum, denn kein Output legitimiert sich selbst. Ein weiteres Problem auf europäischer Ebene sind die Parteien, da es offenbar bis auf kleine Gruppierungen wie die Newropeans – bisher keine wirklich gesamteuropäischen Parteien gibt.
NM: Die direkte Wahl eines europäischen Präsidenten durch die Bürgerinnen und Bürger lehnen Sie ab. Warum?
Abromeit: Die direkte Wahl eines künftigen EU-Präsidenten könnte man – ebenso wie beispielsweise die direkte Wahl des Bundespräsidenten - eher unter der Rubrik Beschäftigungstherapie verbuchen als unter der der Einflussnahme des Volks auf die Politik. Generell ist die Beteiligung der Bürger weit weniger wirksam, wenn sie sich auf die Wahl von Personen beschränkt, als wenn sie sich auf die Entscheidung von Sachfragen bezieht. Dies gilt übrigens umso mehr, wenn das Wahlvolk keinen Einfluss auf die vorherige Auswahl der Kandidaten hat.
NM: Den Bürgerinnen und Bürgern wird oft das politische ‘korrekte’ Urteil abgesprochen. Denken Sie an den Volksentscheid in der Schweiz zum Minarett. Was ist dazu zu sagen?
Abromeit: Bei diesem Referendum handelt es sich um eine Gesetzesinitiative und nicht um ein Veto gegen ein bestehendes Gesetz, das letztere ist nicht nur effektiver sondern auch unproblematischer. Gesetzesinitiativen rufen – wie das Beispiel Kalifornien zeigt – ‘politische Unternehmer’ auf den Plan, die die entsprechenden Entwürfe ausarbeiten, die Kampagnen managen usw. und dabei durchaus auch im eigenen Interesse handeln können; kurz: das Volk wird wiederum ‘mediatisiert’ , nur von einer anderen Gruppe von ‘Repräsentanten’. Die Schweizer Bürgerinnen und Bürger handeln im Übrigen bei Abstimmungen oftmals sehr sachkundig, vor allem auch dann, wenn es an ihren Geldbeutel geht. In Deutschland traut man dem Volk dagegen in gerade in dieser Hinsicht keine Kompetenz zu, das zeigen die verschiedenen Ländergesetze zur direkten Demokratie, die in aller Regel alles ausschließen, was ‘finanzwirksam’ ist.
NM: Sie haben ein Buch mit dem Titel Wozu braucht man Demokratie? geschrieben. Wozu braucht man denn Demokratie?
Abromeit: Man braucht sie jedenfalls nicht, um die Politiker zufrieden zu stellen. Demokratie nicht primär ein System von Institutionen (ein typisches Missverständnis gerade auch in der Politikwissenschaft) sondern ein Verfahren, das sicherstellt, dass die Bürgerinnen und Bürger an Entscheidungen, die sie betreffen, beteiligt sind. Denn ist man an Entscheidungen, die einen selbst betreffen, nicht beteiligt, lebt man nicht selbst- sondern fremdbestimmt. Damit die individuelle Selbstbestimmung auch in der Gruppe möglich ist, dazu braucht man Demokratie. Demokratie dient also der Selbstbestimmung ist daher kein Hilfsmittel zur Erreichung anderer Zwecke. Demokratie ist ein Selbstzweck.
NM: Was geben Sie einer gesamteuropäischen Bürgerbewegung, die die EU demokratisieren will, mit auf den Weg?
Abromeit: Die Demokratisierung der EU ist eine Herkulesaufgabe. Eine gesamteuropäische Bürgerbewegung wird es schwer haben, da die etablierten politischen Kräfte eine Demokratisierung der EU nicht wollen. Die EU wurde schließlich deshalb so gegründet, wie sie gegründet wurde, damit die Regierenden autonom und ohne große Einmischung der Bevölkerungen entscheiden können. Ich vergleiche Brüssel deshalb gerne mit einem Raumschiff. Um dieses Raumschiff zu erden, müssten die Parteien ihren Wählern vor der Europawahl reinen Wein einschenken. Ganz wichtig in diesem Zusammenhang sind natürlich europäische Medien. Sie sind die Voraussetzung für eine europaweite Debatte.
NM: Frau Abromeit, herzlichen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Margit Reiser-Schober*
Frankfurt am Main
* Margit Reiser-Schober ist Mitglied des Vorstands der Newropeans
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